Nachhaltigkeit 2.0 – Chancen der Digitalisierung für die Textil- und Modeindustrie
Digitalisierung und disruptive Technologien – wenige Begriffe elektrisieren derzeit in gleichem Maße, wenige Entwicklungen bewirken ein derartiges Umdenken. Geschäftspraktiken werden vollständig umgewälzt, bestehende Systeme, die in den vergangenen Jahrzehnten noch funktioniert haben, sind längst überholt. Die digitale Transformation bietet nicht nur für Wohlstand und Lebensqualität große Chancen, auch Gesellschaft und Umwelt können von den Entwicklungen profitieren.
Smart Factory
Dies lässt sich etwa am Beispiel einer digital vernetzten und automatisierten Produktion nachvollziehen. Von der Rohstoffbeschaffung bis zur Entsorgung – in jeder Phase der textilen Wertschöpfungskette sorgen disruptive Technologien und Innovationen für tiefgreifende Veränderungen. 3D-Druck, High-Speed, Mass Personalization, erste Nähroboter und On-Demand-Produktion sind die neuen Koordinaten einer automatisierten Fertigung. Besonders der Sportartikelhersteller Adidas macht Tempo – etwa mit am Point of Sale personalisierten Laufschuhen. Nach einer Laufbandanalyse können sich Kunden direkt im Store einen auf ihre physiologischen Daten zugeschnittenen Laufschuh anfertigen lassen – möglich wird das mit einer im 3D-Druck bzw. durch digitale Lichtsynthesis gefertigten Zwischensohle. Zudem verwirklicht das deutsche Unternehmen aus Herzogenaurach mit automatisierten Fabriken unter dem Namen „Speedfactory“ bereits eine weitere Zukunftsvision für die Produktfertigung. Hochfunktionale Sportartikel werden hier mit Hilfe von intelligenter Robotertechnik produziert. Die Vorteile: „Die Adidas Speedfactory verschafft uns Schnelligkeit in der Fertigung gepaart mit der Flexibilität, herkömmliche Prozesse neu zu überdenken, sodass unsere Kunden das erhalten, was sie wollen und wann immer sie es wollen“, kommentiert Glenn Bennett, Vorstandsmitglied der Adidas Gruppe, verantwortlich für Global Operations.
Wie dagegen eine schnelle und flexible State-of-the-art-Produktionskette für Bekleidung aussehen kann, das zeigte kürzlich die „Digital Textile Micro Factory“ auf den Fachmessen Heimtextil und Texprocess 2017. In Partnerschaft mit den Deutschen Instituten für Textil- und Faserforschung inszenierte der Veranstalter, die Messe Frankfurt, damit erstmals eine integrierte, komplett vernetzte Bekleidungsproduktion – vom Design in CAD über den digitalen Druck und dem automatischen Zuschnitt bis hin zu einer in den Workflow eingebundenen Konfektion. „Die Digital Textile Micro Factory ermöglicht es, individualisierte Produkte wettbewerbsfähig, regional und bedarfsgerecht zu produzieren – durch die digitale Vernetzung automatisierter Prozesse“, erklärt Sabine Scharrer, Leiterin der Heimtextil.
Damit spricht Scharrer bereits einige Vorteile der neuen Fertigungsmethoden an. Dazu zählen zum einen wirtschaftliche Faktoren wie Steigerung der Produktivität und Verkürzung der Durchlaufzeit. Zum anderen können auch die Umwelt sowie Arbeitsbedingungen von einer vollständigen Neuordnung der bestehenden Produktionsketten profitieren. Automatisierte Prozesse ermöglichen es, die Fertigung wieder dorthin zu verlagern, wo sich die Konsumenten einer Marke befinden. Das bringt gleich mehrere positive Auswirkungen auf die Umweltbilanz mit sich: Die lokale Produktion spart transportbedingte Emissionen ein. Darüber hinaus ist das Unternehmen nahe an den wichtigsten Märkten, kann flexibel auf Kundenwünsche und die Bedürfnisse am Markt reagieren, Überproduktion so verhindern und damit Ressourcen schonen. Auf letzteres zahlen auch computergesteuerte, passgenaue Herstellungstechniken, digitale Produktentwicklung sowie eine nahtlose Vernetzung der Produktionsschritte ein, die für einen optimalen Materialverbrauch sorgen. In Bezug auf Arbeitsbedingungen bedeutet eine rückwärtsintegrierte Vertikalisierung nach dem Vorbild von Adidas – sprich Händler werden wieder zu Herstellern – zwangsläufig auch mehr unternehmerische Verantwortung in vorgelagerten Produktionsprozessen.
Smart Clothes
Nicht nur die Fertigung verändert sich im Zuge der Digitalisierung. Auch auf Produktebene sind digitale Funktionen Impulsgeber und eröffnen ganz neue Möglichkeiten. Ständig werden neue, innovative Funktionen in Textilien integriert. Wird bei der Produktentwicklung Nachhaltigkeit von Beginn an mitgedacht, können so smarte Kleidungsstücke und Accessoires entstehen wie der „Shock Harvester“, ein Schuh, der von Forschern der Hahn-Schickard-Gesellschaft entwickelt wurde und durch die Laufbewegung Energie – etwa für Wearables – erzeugt. Auch in Shirts, Jacken oder Rucksäcken integrierte Solarpanels sind derzeit eine beliebte Möglichkeit, erneuerbare Energiequellen intelligent zu nutzen – zu sehen etwa bei der niederländischen Designerin Pauline van Dongen oder dem dänischen Label Knowledge Cotton Apparel. Bei jedem Aufenthalt im Freien kann der Träger damit das Potenzial der Sonnenenergie nutzen, um sein Smartphone oder Laptop zu laden, und so täglich fossile Energie aus Brennstoffen wie Braunkohle, Erdgas oder Steinkohle einsparen. Neben diesen kleineren Lifestyle-Beiträgen ist ein weiterer Faktor von Smart Clothes in Bezug auf Nachhaltigkeit nicht zu unterschätzen: die gesteigerte Wertschätzung intelligenter Kleidung.
Smart Services
Neben Smart Factory und Smart Products bilden Smart Services den dritten Fokuspunkt der digitalen Entwicklung in der Textil- und Modeindustrie. Die Chancen der neuen Geschäftsmodelle und Plattformen für mehr Nachhaltigkeit sind zahlreich: angefangen bei Sourcing Plattformen wie Sourcebook, die ihren Fokus auf Reshoring, Produktionsrückverlagerung aus dem Ausland, setzten, oder Common Objective, die auf globale nachhaltige Beschaffung spezialisiert sind, über Self Assesment Tools wie der Higg Index der Sustainable Apparel Coalition oder das CPI2-Know–how-Tool der Carbon Performance Improvement Initiative, mit denen Bekleidungsunternehmen die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Produkte entlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette messen und entsprechende Verbesserungsmaßnahmen ergreifen können, bis hin zu Plattformen für zirkuläre Vernetzung wie das Modell „Extended Closed Loop“ der Designerin Ina Budde. Durch recyclingfähiges Design, zirkuläre Business-Modelle für Wiederverwendung und Infrastrukturen für Closed Loop Recycling setzt die deutsche Designerin die Vision eines geschlossenen textilen Kreislaufs in die Tat um. Das Schlüsselelement des übertragbaren Business-Modells ist ein QR-Code im Kleidungsstück, der auf eine produktspezifische Website führt, die alle Beteiligten von Designer über Konsument bis hin zu Recycling-Firmen miteinander vernetzt. Möchte der Konsument beispielweise ein Kleidungsstück ausrangieren, erhält er ein entsprechendes Rücksendeetikett – je nach Zustand kann er es so zum jeweiligen Label, Händler direkt zum materialspezifischen Recyclingunternehmen schicken.
Auch technische Möglichkeiten, die textile Wertschöpfungsketten für den Endkonsumenten transparenter machen, können einen wichtigen Beitrag zu einer positiven nachhaltigen Entwicklung leisten. Neben dem Tracking über einen in das Kleidungsstück eingenähten QR-Code, der zu einer detaillierten Auflistung der Produktionsschritte führt, wie es etwa das deutsche Label Jan ’n June oder der schweizerische Biotextilhersteller Remei AG verwenden, gibt es weitere Pilotprojekte, die Transparenz in der Modeindustrie forcieren – beispielsweise mit Hilfe von Blockchain Technologie. Dabei handelt es sich um eine dezentrale Datenbank, die Inhalte und Transaktionen durch eine aufeinander aufbauende Speicherung von Daten sichert. Durch diese kryptografisch abgesicherte Verkettung können Daten nicht mehr nachträglich geändert werden. Die Vorteile: Die Open Source Technologie hat das Potenzial, Vertrauen aufzubauen, und zeigt gleichzeitig, dass die Digitalisierung und ihre Möglichkeiten nicht exklusiv den finanzstarken Global Playern vorbehalten bleibt.
Genau dieses Potenzial machen sich die Designerin Martine Jarlgaard und das Technologieunternehmen Provenance zusammen mit dem Beratungsunternehmen A Transparent Company und der Fashion Innovation Agency des London College of Fashion zunutze. Angefangen bei den Mitarbeitern der britischen Alpaka Farm, die die Tiere scheren, bis hin zu Martine Jarlgaard selbst, die in ihrem Londoner Studio die Kleidungsstücke designt und verarbeitet, halten alle, die an der Produktion beteiligt sind, mit Hilfe der Provenance App ihren jeweiligen Fertigungsschritt fest. Dank Blockchain Technologie entsteht eine digitale Geschichte mit technisch verifizierten Informationen über Standorte, Fertigungsprozesse, Materialien, zeitliche Abfolge und die Menschen hinter den Produkten. Kunden können schließlich durch das Scannen des Etiketts am Endprodukt auf genau diese Informationen zugreifen und die Entstehung des Kleidungsstücks nachvollziehen. „Volle Transparenz und Rückverfolgbarkeit werden zu einem Gütesiegel, das es Konsumenten ermöglicht, Entscheidungen informiert zu treffen – und das ganz ohne extra Kosten“, so Jarlgaard. Die Konsequenz: Das Tracking über die Provenance Plattform stellt eine Verbindung zwischen Herstellern und Endkonsumenten her und kann so zu einer gesteigerten Wertschätzung des Herstellungsprozesses und des Kleidungsstücks an sich führen.
Klar ist: Mit den digitalen Veränderungen sind zahlreiche Herausforderungen und Probleme verbunden – auch für Umwelt und Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt sich in allen drei Fokuspunkten Smart Factory, Smart Product und Smart Services, dass sich Nachhaltigkeit und High-Tech gegenseitig befruchten – sei es als integraler Bestandteil etwa durch eine automatisierte Produktion vor Ort oder durch Nutzbarmachung der neuen Möglichkeiten beispielsweise für nachhaltige Sourcing Plattformen. Die Digitalisierung bietet die Chance, Wirtschaftssysteme aktiv neu zu gestalten – Nachhaltigkeit inklusive.
(Text: Mira Hein / Kern Kommunikation im Newsletter des Texpertise Network / Messe Frankfurt)