Disruption mit Druck
Experten sind sich einig: Die Digitalisierung wird kaum einen analogen Stein auf dem anderen lassen. Auch die Textil- und Modeindustrie muss sich der digitalen Transformation stellen, mahnt Digitaldruckexperte Joachim Rees.
Herr Rees, ganz allgemein gefragt: Verschläft Deutschland gerade die Digitalisierung?
Es gibt bei der Einführung neuer Produkte auf dem deutschen Markt ein ungeschriebenes Gesetz, das in etwa lautet: „Wenn man es in Deutschland verkaufen kann, kann man es überall verkaufen.“ Wir sind berühmt für unsere strengen Regeln und Auflagen, die es neuen Produkten und Verfahren nicht gerade leicht machen. Mit so einer Kombination aus Bewahrungslust und kritischer Einstellung Neuem gegenüber lässt sich selbst ein radikal disruptiver Prozess wie die Digitalisierung verlangsamen – aufhalten natürlich nicht.

Joachim Rees, Managing Director bei der Multi-Plot Europe GmbH / Quelle: Multi-Plot Europe GmbH
Sie sind Managing Director bei der Multi-Plot Europe GmbH, einem Lösungsanbieter digitaler Textildrucksysteme. Wie würden Sie in der „Sendung mit der Maus“ den Digitaldruck erklären?
Freddie Mercury singt in einem Queen-Song „I want it all and I want it now …“ – das beschreibt es sehr gut. Ich kann mit dem Digitaldruck vieles selbst gestalten, kann von jetzt auf gleich textile Produkte und Flächen mit allen Farben, Mustern und Schriften bedrucken, egal ob T-Shirt, Werbebanner oder Gardine.
Von Ihnen stammt der Satz: „Digitaldruck ist ein Wachstumsmarkt – er bedient den globalen Trend zur Individualisierung.“ Wie hängt beides miteinander zusammen?
Die Individualisierung hat inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, auch die Textil- und Modeindustrie. Kunden folgen immer stärker eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen bei der Auswahl ihrer Garderobe. Dabei werden Kriterien wie Individualität, Qualität, Herkunft und Nachhaltigkeit immer wichtiger. Zu den „Standardkunden“, die mit bis zu 24 Kollektionen pro Jahr – Stichwort „(Ultra) Fast Fashion“ – versorgt werden, gesellen sich immer mehr kritische Konsumenten, die eher Lieblingsstücke als Wegwerfmode bevorzugen. Hier kommt der Digitaldruck ins Spiel: Er kann die veränderten Kundenerwartungen bedienen, weil sich mit ihm personalisierte Kleidung kostengünstig und nachhaltig in kleinen Mengen produzieren lässt. Es gibt mit ihm keine Überproduktion und auch keine Kosten für Logistik und Lagerhaltung.
Skeptiker sagen, die meisten Konsumenten hätten gar keine Lust, sich T-Shirts, Jacken und Schuhe selbst zu designen. Ist der Wunsch nach individualisierter Kleidung groß genug, um damit nennenswerten Umsatz zu generieren?
Individuelle Kleidung bedeutet ja nicht, dass jeder den Inhalt seines Kleiderschranks komplett selbst designen wird. Die Digitalisierung ermöglicht neben der wirtschaftlichen Fertigung von Einzelstücken auch die Produktion kleinerer Stückzahlen und Kollektionen, die man nach wie vor von Profis entwerfen lassen kann. Die Ergebnisse einer Civey-Umfrage zu nachhaltiger Mode sind in dem Zusammenhang ganz interessant: Das Meinungsforschungsunternehmen hat 2018 über 44 000 Menschen gefragt, wie zufrieden sie mit dem Angebot an Ökomode in ihrer Nähe sind, und ob sie bereit wären, für solche Produkte mehr Geld auszugeben. Neben der Tatsache, dass drei von zehn Teilnehmern im Jahr zuvor nachhaltige Kleidung gekauft hatten, sind vor allem die Aussagen spannend, warum andere es nicht taten: Auf die Frage, was sie am meisten davon abhalte, Ökokleidung zu kaufen, verwiesen 24 Prozent auf „zu hohe Preise” und rund 22 Prozent auf das „zu geringe Angebot in der Umgebung”. Preis und Verfügbarkeit – zwei wichtige Aspekte einer individualisierten Textil- und Modeproduktion, denn mit ihr lassen sich auch kleinere Stückzahlen kosteneffizient beim Kunden „um die Ecke“ produzieren.

T-Shirt-Fertigung „on demand“: Auch Amazon will bei der individualisierten Kleidungsherstellung der Zukunft mitmischen: Der Versandriese sicherte sich 2017 ein Patent zur Herstellung von Bekleidungsstücken wie T-Shirts, die nach Online-Bestellung automatisiert produziert werden sollen / Quelle: Photo by Kristina Paukshtite from Pexels
Der Sportartikelhersteller Adidas will seine Speedfactorys zur Herstellung von Schuhen im US-amerikanischen Atlanta und im fränkischen Ansbach im Frühjahr 2020 schließen. Teile der Technologie sollen nach Asien verlagert werden, also in jenen Teil der Welt, der nach wie vor für kostengünstige Massenproduktion, hohe Losgrößen und lange Transportwege steht. Sie beschreiben Microfactorys als „Produktion der Zukunft“ kleiner Margen und personalisierter Kleidung. Hat Adidas sich verschätzt, oder klaffen Wunsch und Wirklichkeit bei einer wirtschaftlichen Einzel- und Kleinserienfertigung – Stichwort „Fashion on demand“ – noch zu weit auseinander?
Ich kenne die Überlegungen nicht, die bei Adidas eine Rolle spielen, denke aber nicht, dass das Unternehmen den Fokus auf die individualisierte Herstellung verworfen hat. Gut möglich, dass sie die Microfactorys schlicht deshalb schließen, weil sie funktionieren. Die Technologie scheint sich ja bewährt zu haben, wenn sie sie weiterhin nutzen wollen. Wie es heißt, war die Speedfactory in Ansbach auf 500 000 Paar Schuhe jährlich ausgelegt; und selbst diese Kapazitätsgrenze wurde nie erreicht. Adidas lässt weltweit jährlich 400 Millionen Paar Schuhe produzieren, also kann man annehmen, dass es bei den Speedfactorys von Beginn an auch um die Erprobung der Technologie für eine lokale, hochautomatisierte Produktion kleinerer Mengen ging. Und wer weiß, vielleicht exportieren sie das Modell einer flexiblen Kleinfabrik künftig zeitlich begrenzt in andere Länder, beispielsweise zu Fußballeuropa- oder -weltmeisterschaften.
In einem anderen Interview sagten Sie, die „sehr konservative“ Textilbranche müsse sich den Veränderungen durch die Digitalisierung von Prozessen und einem veränderten Konsumverhalten stellen. Was wurde bisher bei der Umsetzung digitaler Weichenstellungen versäumt?
Viele Unternehmen scheinen noch immer nicht verstanden zu haben, dass die Digitalisierung ein Transformationsprozess ist, der nahezu alle analogen Prozesse radikal umwandeln wird. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann das passiert. In vielen Textilfirmen ist nach wie vor nur die Ware das Produkt. Das ist auch nachvollziehbar, denn über den Absatz werden die Löhne der Mitarbeiter erwirtschaftet. Aber man muss sich auch neuen Spielfeldern öffnen. Kundendaten zum Beispiel sind längst ebenfalls ein wichtiges Produkt, das in vielen textilen Überlegungen bisher keine Rolle spielt. Oder nehmen Sie Design und Know-how einer neuen Kollektion: Beides ist heute schon in Asien, bevor auch nur ein Stück verkauft wurde. Das sind die Gesetze der alten Wertschöpfungskette. Aber wie verrückt ist das denn? Designs sind doch ein echter Wettbewerbsvorteil! Genau wie die Kundendaten als Schnittstelle zum Konsumenten. Über sie können Unternehmen nicht nur Informationen über Vorlieben, Bedürfnisse und Verhalten der Kunden gewinnen, sondern auch einzigartige Nutzererlebnisse schaffen.
Können Sie Beispiele nennen?
Wir betreuen viele junge deutsche Unternehmen, die Mode, Sportbekleidung und Heimtextilien lokal in Hunderter- und Tausender-Stückzahlen produzieren. Die kaufen nur noch den Stoff beim Textiler; den Rest erledigen Microfactorys. Bei diesen Firmen steht nicht mehr „Textilfabrik“ über der Produktionshalle. Dabei haben etliche unserer Kunden zunächst sogar versucht, ihre Produkte bei klassischen Textilfirmen fertigen zu lassen; aber denen waren entweder die Losgrößen zu gering oder das Risiko zu hoch, etwas Neues zu wagen. Deshalb umgehen immer mehr Newcomer die klassischen Textilproduzenten, die Händler und – zum Beispiel bei Heimtextilien – die traditionellen Raumausstatter. Stattdessen treten sie über e-Shops und Apps direkt an den Endkunden heran, liefern digitalen Content und Storys rund um ihre Produkte, betreiben ein effizientes Datenmanagement und so weiter. Nicht-Textiler scheinen inzwischen modernere Textil- oder Modeproduktionen hochzuziehen als die Textiler selbst. Offenbar ist es von Vorteil, nicht aus der Branche zu kommen: Ich bin Diplomingenieur der Elektrotechnik und kenne all die „Das geht nicht“ und „Das funktioniert nie“ der textilen Welt nicht – und was man nicht kennt, das bremst einen auch nicht.
Wie müssen sich Ihrer Meinung nach Branchenmessen wie die Texprocess auf die neuen Herausforderungen einstellen?
Auf Textilmessen liegt der Fokus im Umfeld der Digitalisierung derzeit noch zu stark auf Einzellösungen. Um es bildlich auszudrücken: Man sieht in den Messehallen viele einzelne Musikinstrumente, aber als Gruppe bilden diese noch kein gut klingendes Orchester. Ich wünsche mir, dass die Faser stärker im Veränderungsstrom der Digitalisierung gezeigt wird, dass man Antworten bekommt auf Fragen wie: Wie digitalisiere ich die textile Wertschöpfungskette sinnvoll, effizient und nachhaltig? Wie baue ich langlebige Schnittstellen zu Kunden auf? Wie binde ich Kunden? Microfactorys sind ein guter Ansatz, insgesamt muss aber noch viel stärker gezeigt werden, wie man textile Prozesse von der Faser bis zur individuellen Freiheit, sein eigenes Lieblingsstück zu designen, insgesamt vernetzt.
Herr Rees, vielen Dank für das Gespräch.
Titelbild (Quelle: Multi-Plot Europe GmbH)